Serienpsychos

Neulich stellte eine Freundin bei Facebook diese Frage:

In der Serienwelt hat sich etwas verĂ€ndert. Wo Figuren frĂŒher eine sympathische Macke hatten, zeichnen sie sich heute durch eine manifeste Störung aus: Aus schĂŒchternen Mr. Darcys wurden beziehungsunfĂ€hige Soziopathen; wer frĂŒher eitel war, ist heute gleich Hardcore-Narzisst. Und so weiter, und so fort.

SpĂ€testens seit „Das Schweigen der LĂ€mmer“ wissen wir: Ein Psychopath bringt gleich eine ganz andere Dynamik in die Story. Eine Macke kann man wegblenden, eine Störung hingegen ist manifest, tiefgehend, radikal. Entsprechend radikal agiert aus dieser Störung heraus die Figur, was der Handlung enormen Drive gibt. Heraus kommen Stories wie auf Steroiden.

Eine Hanniballecterisierung des fiktionalen ErzĂ€hlens hat stattgefunden. Mir ist diese VerĂ€nderung zum ersten Mal in der Pilotfolge von „Six Feet Under“ aufgefallen, in Deutschland hatte VOX die Bestatterserie irritierenderweise als Nachfolger fĂŒr „Ally McBeal“ beworben. Die ersten Minuten sind atemberaubend: Die Serie startet mit einem fiktiven TV-Spot fĂŒr neue Leichenwagen. Der Vater der Bestatterfamilie hat ihn sich gekauft, fĂ€hrt stolz damit durch die Stadt und telefoniert dabei mit seiner Familie. Sein Sohn hat auf dem Flug zu seinen Eltern eine wunderbare Frau kennengelernt, spontan treiben die beiden es wild miteinander auf der Flughafentoilette. Der Vater stirbt bei einem Unfall mit seinem neuen Leichenwagen. Der Sohn und seine neue Bekannte verstĂ€ndigen sich darauf, dass ihre Nummer gerade keine Bedeutung haben sollte und sie sich nie wiedersehen werden.

Und an diesem Punkt dachte ich, vor dem Fernseher sitzend: Oha, die beiden sind wirklich gestört. Niemand, der auch nur annÀhernd bei Trost ist, lÀsst so eine Wahnsinnsfrau gehen.

In diesem Moment ruft die Mutter den Sohn an, dass sein Vater gestorben sei, die Wahnsinnsfrau fragt ihn daraufhin, ob sie ihm helfen kann und zack! stecken die beiden in der Beziehung, die sie nicht wollten. Das alles spult sich ab in vielleicht sechs Minuten. Knaller! „Six Feet Under“ legt los wie eine Mercury-Rakete, und aus diesem Treibsatz bezieht die Serie ihre gesamte Energie. Im Vergleich dazu kommt „Babylon Berlin“ selbst nach drei Folgen noch nicht richtig aus dem Quark und trudelt vor sich hin.

SpĂ€ter wird sich ĂŒbrigens herausstellen, dass die Normalste in dieser Bestatterfamilie die kleine Schwester ist, ein Emo auf Drogen.

Auch die Desperate Housewives waren ein ganz anderes Kaliber als die Upper-Class-Girls aus „Sex and the City“ zuvor. „Ally McBeal“ hatte sich vorher bereits in diese Richtung bewegt. Lange habe ich Ally verehrt, aber etwa ab der dritten Staffel konnte ich diese neurotische Zicke, zu der sie sich entwickelt hatte, nicht mehr ertragen. Ich war ‚raus. Womöglich liegt hier auch das Risiko, wenn Figuren so radikal angelegt werden: dass der Zuschauer sich genervt abwendet.

Es reicht allerdings innerhalb eines Serienkosmos nicht, bloß einen extremen Charakter zu entwickeln. Das GefĂŒge einer Serie sollte wie eine gotische Kathedrale konstruiert sein: Jedes Element sollte eine tragende Funktion haben. Deswegen muss die Störung oder Psychose auf das Serienthema und auf die Rolle einzahlen, die eine Figur in der Serie spielt. Sie ist zentral, andernfalls beraubt sie Serie und Figur ihrer Dynamik. Nates Bindungsphobie in „Six Feet Under“ kollidiert mit den engen Fesseln seiner Familie.

In „The Big Bang Theory“ haben alle einen Schaden außer Penny. Von Sheldon Cooper wissen wir, dass er als Kind getestet wurde. Ändert aber nichts. Bei ihm sieht man zu gut, wenn sein innerer DĂ€mon ihn wieder schier zu zerreißen scheint. Aber selbstverstĂ€ndlich kann man eine moderne Serie auch noch ohne Psychopathen erzĂ€hlen. In „Suits“ hatte Her Royal Highness Meghan Markle als Rachel PrĂŒfungsangst. That’s all. Ja, Harvey Specter hat narzisstische ZĂŒge, aber nie destruktiv. Ich empfinde es angenehm zu sehen, dass auch noch das Florett statt des Rammbocks funktioniert.

In skandinavischen Serien sind alle irgendwie kaputt. Und Deutschland? Ich bin kein Tatort-Zuschauer, aber bei meinen wenigen Einblicken habe ich den Verdacht, dass hier das Psycho-Element gern mal auf eine Figur „draufgesattelt“ wird. Damit ist es aber nicht zentral, sondern lĂ€uft eher so nebenher, es treibt die Handlung nicht an, sondern irritiert stattdessen. Allgemein sind einige deutsche Serien professionell erzĂ€hlt, aber in meiner Wahrnehmung kann keine es mit der Dynamik der großen US-Serien aufnehmen, und womöglich liegt der mangelnde Drive schon im Start begrĂŒndet.

Was das ĂŒber unsere Gesellschaft aussagt und was es mit ihr macht, wenn Menschen so oft als Psychopathen dargestellt werden, wĂ€re die nĂ€chste, spannend Frage. Mag sein, dass meine Facebook-Freundin weniger vertrauensvoll in ihr nĂ€chstes Date geht. Vielleicht ist sie aber auch froh, wenn sie jemanden mit einer charmanten Macke trifft und keinen dieser Serienpsychopathen.

P.S.: Danke, Vero, fĂŒr die Anregung.

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